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Tassen im Schrank
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HILDESHEIM, 12. Juni. Pu der Bär begrüßt uns
als Aufkleber an der Wohnungstür, wir stoßen sie auf und treten
ein. Rechts liegt das Kinderzimmer, eine Kordel ist über die Schwelle
gespannt. "Die Eltern haben beide studiert", hallt die Stimme
von Expeditionsleiter Uli Schuster aus dem Wohnzimmer, wo er die hiesige
"Tassenchronik" erläutert. Aha, da gibt es etwa die extragroße
"Vordiplomtasse" zur Reduzierung der selbstbetrügerischen
Lernpausen, "um sich mal eben neuen Tee zu kochen". Oder den bei
einer Hausräumung aufgelesenen Becher, dessen Assimilierung ins Tassenkollektiv
problematisch war, weil er seiner Besitzerin lange "fremd blieb". Mitropa-Speisewagen Die Besuchergruppe registriert schmunzelnd diese Spielart des alltäglichen Wahns. Es gehört zu den klassischen Fantasien, unbeobachtet fremde Wohnungen zu erforschen, und der so genannte Arbeitskreis Mobiler Stadtführer (Ak.M.S.) macht es möglich. Während des Theaterfestivals "transeuropa 2000" bieten Gesa Henselmans, Tilmann Meyer-Faje und Uli Schuster derzeit täglich drei Expeditionen in die Wohnkultur von Hildesheimer Bürgern an. "Wo sonst findet man das Stadtbild, das seine Einwohner tatsächlich repräsentiert?" lautet das Credo der Künstler. Deshalb stehen wir in einer Küche mit der DIN-Norm-Größe von 8,5 Quadratmeter und lernen etwas über das funktionale "Frankfurter Küchenmodell", die erste Einbauküche der Welt aus dem Jahre 1926. "Wohn- oder Arbeitsküche, das ist hier die Frage!" Schuster zeigt Bewegungsdiagramme von häufigen Küchen-Handgriffen und lobt die Effizienz des Mitropa-Speisewagens, der damals als Vorbild diente, um die Hausarbeit zu erleichtern. Ein kurzer Fußweg zum nächsten Wohntypus: die WG, die den einen als der Inbegriff von Freiheit gilt und den anderen als freiwillige Gruppenfolter. Jedenfalls hat die Sozialisation ganzer Generationen in Wohngemeinschaften eine neue Ästhetik hervorgebracht. Dazu gehören selbst gebastelte "Spüluhren", die Putzdienste anzeigen und denen der Ak.M.S. eine kleine Ausstellung widmet. In fast jeder WG-Küche finde sich auch das Stillleben von einem Regal mit Espressodose und Alukanne, so Schuster. |
Auch die Liebe zum Kitsch wird hier zelebriert: Wandmalereien, Kunstrasen
und Hirschgeweih überm Herd. Schuster betätigt einen von fünf
aufgereihten Toastern, aus dem Musik erklingt. "Von Holger, der baut
Toaster um." Ist die WG per se eine kreative Lebensform? Die Bewohner
haben sich zurückgezogen, so gewinnt das Interieur an Bedeutung:
In Wohnungen kann man lesen wie in einer Biografie. CHRISTIAN KORTMANN Berliner Zeitung Textarchiv |
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