gucken, wo die türen
offen stehen

Der Sommer ist vorbei, viele fühlen sich betrogen.
Alle, die noch einmal auftanken wollen,
sollten schnell nach Gießen fahren.
Drei junge Studenten bieten dort zweimal täglich
eine Pauschalreise an, die schon in Hildesheim
erfolgreich war. Dauer 120 Minuten

  AKMS Stadtführung durch Wohnungen
Hildesheim ist schön. 'Modern' und 'überschaubar', wirbt die Stadt am Rand der norddeutschen Tiefebene, und 'nur 30 Kilometer von der Lähdeshauptstadt entfernt'. Auf das Briefpapier des Tourismusbüros hat man liebevoll historische Sehenswürdigkeiten kopiert, darunter zwei zarte Rosen. Nach Hildesheim kommen jährlich rund 80000 Touristen. In diesem Sommer haben viele einen Abstecher von der Expo in die 'Rosenstadt' gemacht.
Manche allerdings verließen den beschaulichen Ort etwas verschreckt. Schuld daran waren einige Aktionen des Theaterfestivals 'Transeuropa 2000', mit denen die Veranstalter auf sich aufmerksam machen wollten. Auf dem Marktplatz standen zwei Künstler, die sich die Unterarme aneinandergenäht hatten. Einer lief mit echten Schweineköpfen durch die Fußgängerzone, ein dritter führte einen riesigen Stein an einer Hundeleine spazieren. Alles polizeilich erlaubt, für Hildesheim-Touristen aber ziemlich harte Brocken.
Geradezu beschaulich dagegen war das Auftreten dreier junger Leute in adretten Uniformen mit Namensschildchen am Revers. Gesa Henselmans, Tilmann Meyer-Faje und Uli Schuster. Sie sind der "Arbeitskreis Mobiler Stadführer", kurz AKMS. Vier Tage lang postierten sie ihren Stand unmittelbar vor der Jacobikirche, davor eine Kreidetafel mit der Aufschrift 'Stadtführungen'. In ihrem Repertoire: Eine Führung durch Hildesheims Wohnkultur, eine durch die Innenstadt.
Freitagnachmittag, kurz vor 14 Uhr. Ein Mann mit Pepita-Hut hat sich dem Stand langsam genähert. Die Führung durch die Innenstadt, die will er. Wir werden nie erfahren, wie er sie fand. Irgendwann hat er sich unauffällig zurückfallen lassen - dann war der Mann mit dem Pepita-Hut weg. Die meisten anderen vor ihm aber blieben. 'Geld zurück wollte noch keiner', sagt Tilmann, der die Außen-Tour leitet und dabei gezielt jedes historische Gebäude in Hildesheim auslässt.
Stattdessen hält er vor einer Baulücke, in der einst das größte Autokaufhaus der Stadt stand. Für den Stadtführer 'ein Mahnmal für den wirtschaftlichen Aufstieg Hildesheims'. Oder vor einer Passage; die aufgrund ihrer Gestaltung der besonderen Schiebeglastüren zu einer der erfolgreichsten in der ganzen Bundesrepublik avancierte. 'Der Grund dafür liegt auf der Hand', so der Holländer. 'Tagsüber werden diese weggeschoben, das erzeugt eine besondere Kundennähe'.
Bei Sätzen wie diesen lacht er nie. Das wäre unprofesionell, denn das Ganze ist eine Performance.
'Wir nutzen die Führungen als Medium', sagt Tilmann. 'Wir machen keinen Film, keine Show,
die Führung ist unsere Show. Wir ziehen unsere Jacken an, wir sind Stadtführer, und das Material,
das wir zeigen, ist der Inhalt unseres Stückes'. Dazu zählt natürlich die Geschichte der Stadt, aber auch, wie sich die Menschen in ihr einrichten, wie sie ihren Abwasch organisieren, welche besondere Bedeutung einige Gegenstände in ihrem Leben haben. Das ist der Inhalt der Wohnkultur-Führung von Uli Schuster und Gesa Henselmans.
Da, wo Türen offen stehen, darf jeder gucken, Schlafzimmer sind tabu. Soweit die Regeln. Mit dieser simplen Einschränkung hatten Gesa und Uli keine Probleme, die Eigentümer der Wohnungen vom Sinn und Zweck ihrer Führungen zu überzeugen. Der AKMS begreift diese als Verwandlung von Alltag in Kunst.
 

Pu, der Bär, begrüßt uns als Aufkleber an der Wohnungstür von Familie Purian, wir stoßen sie auf, treten ein. 'Die Eltern haben beide studiert', hallt die Stimme von Expeditionsleiter Uli aus der Küche. Das stimmt tatsächlich, Uli hat das gründlich recherchiert. Genau wie alle anderen Sachen, die er in den nächsten anderthalb Stunden erzählen wird. Wir lernen etwas über Bewegungsdiagramme in DIN-Küchen, über die funktionale 'Frankfurter Küche Margarete Schütte-Lihotzkys. Schuster lobt die-Effizenz des Mitropa-Speisewagens, der damals als Vorbild diente, um die Hausarbeit zu erleichtern. Dann setzt er an zur Tassenchronik. Er holt eine überdimensionale Müsli-Tasse aus einem Kiefemregal, die 'Vordiplom-Tasse'. Sie diente der weiblichen Person des Haushalts zur Reduzierung der selbstbetrügerischen Lernpausen, 'um sich mal eben einen Tee zu kochen'. Zwei weitere Klassiker die Urlaubstasse (mit der Aufschrift Oslo, Norwegen, Besuch eines Handwerkerdorfes) und eine 'kranke' Tasse. 'Schon einmal geklebt', weiß Uli. Die hat sie einmal gekauft, als er eine Gürtelrose hatte.
'Stimmt alles, ist alles vollkommen authentisch', bestätigt Frau Purian, die wir im Treppenhaus treffen. Es nervt sie nicht, dass wildfremde Menschen dreimal täglich ihre Privatsphäre stören.
'Man hat mich ja gefragt', sagt sie.Beim AKMS macht man Erfahrungen, die sonst Postboten oder GEZ-Kontrolleuren vorbehalten bleiben. Die Dinge des alltäglichen Wahns, sie werden durch die wissenschaftlich fundierte Präsentation noch komischer, als sie es von Natur aus schon sind. Als besonders ergiebig erweist sich der Wohntypus WG. Die Sozialisation ganzer Generationen hat in Wohngemeinschaften eine neue Ästhetik hervorgebracht. Dazu zählen selbst gebastelte Spüluhren, die den Abwasch regeln. Ihnen widmet der AKMS eine kleine Ausstellung.
Der AKMS begreift seine Stafdtführungen auch als alle Sinne anregende Installation. Das hätte Marcel Duchamp gefallen, dessen berühmtes signiertes Pissoir von 1917 in einem Partykeller der Hildesheimer Ostsstadt seine Fortsetzung findet. Die Pisel-Box" erreicht der Besucher nur über eine Leiter - tiefer gelegt hätte der abenteuerliche Abort nicht die nötige Fallgeschwindigkeit erreicht. Expeditionsleiter Schuster deutet es als ein Zeichen für den menschlichen Drang, sich sein kleines Paradies zu schaffen.
Eine Stadtfährung als Performance: Die Idee dazu entstand vor zwei Jahren auf einem Kunstfestival in Erlangen. Dort lernten sich Gesa, Tilmann und Uli kennen, seitdem arbeiten sie als Team. Schon viel früher aber hatten sie etwas gemeinsam. ,Wie jeder ordentliche Abiturient gingen sie zur Berufsberatung. Dort spuckt ein Computer auf wundersame Weise den besten Beruf für einen aus. 'Bei uns allen kam Schaufensterdekorateur heraus', sagt Gesa, 'das muss doch Fügung sein!'
Tilmann fühlt sich sogar 'berufen'. Der Holländer ist voller 'Fetzen von Ideen'. Der AKMS würde zum Beispiel gern einmal ein Zeitarbeitsbüro als Performance einrichten oder eine Trendwatcher-Börse eröffnen. Mindestens genauso interessant finden Gesa, Tilmann und Uli aber mittelgroße deutsche Stadte. Wie ErIangen, Hildesheim - und neuerdings eben Gießen. Eine Stadt, die auf den ersten Blick keine Besonderheiten hat, stark zerstört wurde.
Am Stadtrand haben die drei ein Silohochhaus entdeckt, das einem südländischen Hotel gleicht. Dort hin bieten sie eine Pauschalreise an. Die Teilnehmer müssen sich um nichts kümmern. Das Gepäck wird gestellt, die Stimmung mitgebucht. Gesa, Tilmann und Uli versprechen: Es wird keine überflüssigen Wartezeiten geben, ein Highlight jagt das nächste. Dauer der inszenierten Reise: 120 Minuten. 'Das reicht', findet Tilmann. 'Da kann man jede Menge machen. Eigentlich alles, was einen guten Kurzurlaub ausmacht.'AUSKUNFT- "Schnell & Billig" Reisen werden vom 11. bis 15. Oktober zweimal täglich angeboten. Karten gibt es an allen bekannten Vorverkaufstellen des Kunstfestivals "Diskurs 2000" in Gießen.

 

Frankfurter Rundschau / Magazin
Samstag, 07.10.2000
Text - Eberhard Schade
Foto - Karen Massine
/Das Foto stimmt nicht mit dem Orginal
der Frankfurter Rundschau überein.
/ Die Angabe zur Dauer der erwähnten Pauschalreise wurde nachträglich korrigiert. Im Orginal steht die falsche Angabe: 30 Minuten