Starter Kit Berlin
Starter Kit Berlin - Wie werde ich ein Berliner Der 'Neu Berliner ist ein Kennzeichen der Hauptstadt.
Das Starter Kit bietet eine Spurenaufnahme am Nabel der Stadt und hilft bei der Integration.
Starter Kit Heimat
(von Eberhard Schade und Judith Borowski)
Jedes Jahr ziehen mehr als 100.000 Menschen in die Hauptstadt. Der Künstler
Uli Schuster erklärt, wie sie in nur drei Schritten zu echten Berlinern
werden.
1. August 2004, 12 Uhr mittags, Berlin, Volkspark Friedrichshain. Dr. Werner
Baumann, 57, sitzt am Rand des Märchenbrunnens und lässt vorsichtig
den rechten Fuß bis zum Knöchel ins Wasser gleiten. In seinen handgenähten
Schuhen stecken ordentlich gefaltete schwarze Socken. Bau-mann lächelt,
ist zufrieden: Pünktlich auf die Sekunde springen die Fontänen des
Brunnens an. Und, wer hat’s bezahlt? Der Schweizer. 46,70 Euro.
Knapp drei Kilometer südöstlich: Uli Schuster liegt auf dem Rasenstück
um den Brunnen am Straussberger Platz, der die Karl-Marx-Allee unterbricht.
Um ihn braust der Verkehr, den 33-Jährigen stört das nicht. Er hört
nur das Plätschern und öffnet eine Flasche Prosecco. 121,89 Euro
hat beides zusammen gekostet.
Im normalen Leben verbindet Baumann und Schuster nicht viel: Der eine, Baumann
aus Altdorf im Kanton Uri ist Jurist, war Konsul in New York und Botschafter
auf den Philippinen. Seit Juli 2002 ist der Schweizer Nachfolger von Thomas
Borer in Berlin. Der andere, Schuster, kommt aus Bielefeld-Schildesche, er
ist Künstler, “eben abstudiert”, lebt in Kreuzberg und liebt
seine türkisfarbene Second-Hand-Trainingsjacke.
Heute aber, am 1. August haben beide etwas gemeinsam. Für beide ist es
ein besonderer Tag. Baumann feiert die Entstehung der Eidgenossenschaft. Schuster
den Tag, an dem er nach Berlin kam. Beide feiern an einem Brunnen. Beide in
ihrer neuen Heimat: Berlin. Schuster glaubt, dass so etwas dazu gehört,
wenn man ein echter Berliner werden will. Er hat das sogar zum Thema seiner
Abschlussarbeit an der UdK gemacht.
Berlin ist pleite. Die meisten Brunnen der Stadt stehen still. Baumann und
Schuster aber haben mit ihrer Spende beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg
dafür gesorgt, dass ihre Lieblingsbrunnen für einen Tag sprudeln.
Viele Brunnen in Berlin kann man buchen, für Stunden, Tage oder Wochen.
Und für die Freundin, statt Blumen, zum Geburtstag. Dies ist gar nicht
schwierig, und auf dem Bezirksamt liegen sogar Listen, auf denen steht, wieviel
ein Brunnen pro Betriebstag kostet.
"
Setzt Zeichen. Genießt die Macht, ins Stadtbild einzugreifen." Dazu
ruft Uli Schuster alle aus Castrop-Rauxel, Bebra, München Hinzugekommenen
auf und auch all jene, die aus dem Ausland nach Berlin gezogen sind, wie Baumann.
Das sind jährlich immerhin mehr als 100.000 Menschen. "Feiert den
Tag, an dem Ihr nach Berlin gekommen seid, feiert Geburtstag, Jubiläen,
den Ruetli-Schwur – ganz egal!"
Schuster kam 1999 nach Berlin, nicht direkt aus Bielefeld, sondern via Amsterdam,
wo er einen Teil seines Studiums absolvierte. Berlin war für ihn verlockend – die
Mischung aus Alt und Neu, aus Aufbruch und Verfall, die vielen Kreativen,
die sich hier fanden.
Rund dreieinhalb Jahre später jedoch stört ihn hier auch manches.
Beispielsweise, dass Orte wie der Hackesche Markt "aussehen wie ein einziger
H&M-Laden", weil jeder Charme “wegbetoniert” worden sei.
Schuster: "Mittlerweile ist die Stadt geradezu verseucht von Neu-Berlinern." Wenn
er so spricht, meint er mit “Neu-Berlinern” jene Fraktion, die
in Berlins Mitte ihren Cafe latte schlürft. Und es gibt ja viele, die
schlürfen schon seit Jahren nichts anderes, interessieren sich auch für
nichts anderes. Drum interessieren sie auch Schuster nicht weiter. Seine Arbeit
ist für all jene, die wirklich Berliner werden wollen: Menschen, die das
Unentdeckte suchen, die die Zeichen der Stadt lesen können, die wissen,
was sie ausmacht und die hier wirklich eine Heimat finden wollen. Für
diese neuen Hauptstädter hat Schuster in seiner Abschlussarbeit einen
Leitfaden entwickelt. Titel: "Starterkit Berlin – Wie werde ich
ein Berliner?"
Mit dieser Arbeit hat Schuster sein Studium “mit besonderem künstlerischem
Erfolg bestanden” – das ist die höchste Auszeichnung, die
man bekommen kann. Also muss was dran sein. Laut Schuster und seiner Arbeit
sind es drei Schritte bis zum echten Berliner. Der Brunnen ist eigentlich schon
der zweite; ein bereits öffentlicher. Danach kommt die Friedhofs-Gießkanne.
Aber noch vor dem Brunnen und gleich nach dem Umzugskisten-Auspacken kommt
der Schlüssel.
1912 hat die Firma Albert Kerfin & Co GmbH, 13347 Berlin-Wedding, ein Patent
auf den Berliner Schlüssel angemeldet, einen Durchsteckschlüssel
mit Schließzwang. Einen Schlüssel mit zwei Bärten. Wer in einem
Berliner Altbau mit Toreinfahrt wohnt, kennt ihn und jeder andere in Berlin
kennt ihn vermutlich auch. Seine Funktion, für alle Neu-Berliner: Schlüssel
reinstecken, aufschließen, durchstecken, von der anderen Seite Tür
oder Tor abschließen, abziehen. "Absurd", dachte Uli Schuster,
als er in die Hauptstadt kam und das erste Mal einen solchen Schließzwang-Schlüssel
in der Hand hielt. Heute trägt er ihn an seiner Kuriertasche, als Zeichen,
gar nicht mal wirklich zum Schließen. Darauf eingraviert zwei Postleitzahlen:
33611 für Bielefeld-Schildesche, daneben 10999 für Berlin-Kreuzberg. "Man
soll den Schlüssel ruhig öffentlich tragen", fordert Schuster,
um den Hals, an der Tasche, am Hosenbund. Als Bekenntnis zu Berlin. Und zu
dem Stadtteil, in dem man wohnt. Das ist ja wichtig in Berlin. Schuster jedenfalls
hat sich für Kreuzberg entschieden.
Den Schweizer Botschafter Dr. Werner Baumann wird Schuster demnächst wegen
des Märchenbrunnens anrufen. Damit der, wie Schuster, am 1. August ein
Zeichen setzt. Auch wenn Berlin für Baumann im Grunde nur eine Stufe auf
der Karriereleiter sein wird, bestenfalls Interims-Heimat. Schuster weiß das.
Trotzdem gefällt ihm die Idee der Geste mit dem Brunnen, der für
vergleichsweise wenig Geld in Gang gesetzt wird: Wenigstens einen Tag kann
jede In-stitution für die Stadt, in der sie arbeitet, etwas tun, und so
gleich ein besonderes Datum feiern. "Das wäre doch toll, wenn jede
Botschaft dann und wann für einen Brunnen sorgte,” sagt er. Unternehmen
könnten auch Mitarbeitern zum Geburtstag einen "Brunnentag" schenken.
Oder einen Schlüssel: Eine Firma wie M-TV etwa, die nun samt Belegschaft
von München nach Berlin zieht. “Wäre schön, wenn jeder
Mitarbeiter zum Ankommen einen Berlin-Schlüssel bekäme – auch
als Symbol gedacht, als Schlüssel zur Stadt”, findet Schuster.
Wenn Berlin nicht nur Station und auch nicht nur ein Zuhause, sondern richtig
Heimat werden soll, dann muss aber noch mehr her. Eine Friedhofs-Gießkanne
mit persönlichem Emblem etwa. "Menschen werden schließlich
in ihrer Stadt begraben, nicht irgendwo." Und das müsste Konsequenzen
haben. Wird doch Berlin für viele Menschen schnell der Ort, mit dem sie
sich identifizieren. Kommt jemand vom Dorf hierher in die Metropole, so sagt
er schon nach ein paar Wochen: Ich komm‘ aus Berlin. Umgekehrt macht
das so schnell keiner.
Bis jemand jedoch wirklich auf einem Friedhof liegt und zu Berliner Erde
wird, kann er oder sie mit der Gießkanne schon einmal die Nachbarn wässern:
Schuster rät zu einem T-Stück statt Brausekopf. Allerdings – als
Spaß will der Künstler diese Idee nicht verstanden wissen. "In
den Baumarkt gehen, Gießkanne und T-Stück kaufen, das Ganze mit
einem Fahrradschloss auf einem Friedhof festketten, dazu gehört mehr." Nämlich,
dass man sich schon zu Lebzeiten überlegt, hier für immer bleiben
zu wollen und nicht noch einmal nach Schildesche umzuziehen, ins Familiengrab.
Uli Schuster hat sich entschieden: für den Friedhof III der Jerusalems-
und Neuen Kirche am Mehringdamm in Kreuzberg. Dort hat er seine grüne
Zehn-Liter-Kanne zu den Dutzenden anderen aus grünem, blauem, gelbem Plastik
gehängt. Auf der steht nicht Uli und nicht Schuster. Sondern nur "Heimat
Berlin".
01/2004 Eberhard Schade/Judith Borowski
Starter Kit Heimat liegt hier als pdf bereit.
Text (85kb) / Text + Bild (470kb)
Starter Kit Berlin im Web